Alles ist da und ist doch nicht da

Jari Ortwig, 2017

In unserer Vorstellung ist die Bewegung oder der Wandel eines Körpers mit mindestens zwei Erfahrungsmomenten bzw. -bildern verknüpft. Verstehen wir Zeit insgesamt als Aneinanderreihung von Zeitpunkten, ergibt sich hier ein Paradoxon, dass der Philosoph Zenon von Elea im 4. Jh. v. Chr. mit einem Pfeil beschrieben hat: Um den Pfeil in seiner Flugbahn wahrzunehmen, geht man von einem exakten Moment und einem exakten Ort aus. Ist dies gegeben, befindet sich der Pfeil hier jedoch in Ruhe. Da jeder Moment auch ein Moment der Wahrnehmung ist, müsste der Pfeil permanent stillstehen. Oder ist die Paradoxie des Gesetzes alleine an unsere Wahrnehmung gekoppelt?

Die Simultanität von zweiter und dritter Dimension, von Abstraktem und Konkretem innerhalb eines Bildmotivs ist es, was die Werke von Tamara Lorenz kennzeichnet. Es ist ein Moment der Wandlung, welchen die Fotografien in sich tragen, ohne sich tatsächlich zu verändern; Vexierbilder, die Zeit- und Dimensionssprünge suggerieren, ohne dass sich wirklich etwas bewegt. (Alles ist da und ist doch nicht da.)

Tamara Lorenz ist Fotografin und Bildhauerin, Alchimistin, Operateur vor und hinter der Kamera. Räumliches und grafisches Denken überlagern sich hier, hin zum existentiellen Diskurs. So entwickelt die Künstlerin architektonisch-räumliche Skulpturen und Collagen, um sie dann in die Fotografie zu übertragen. Mit dem Druck auf den Auslöser scheint die eingefangene Realität – mehr noch als in der Fotografie ohnehin üblich – in eine andere Daseinsebene überzugehen und ihr Wesen zu verändern, sich zu verwandeln. Doch lediglich real gegebene visuelle Faktoren, wie Perspektive und Licht transformieren die räumlichen Strukturen in eine flächige geometrische Komposition des Hard-Edge. Würde man dieses Phänomen auf eine einfache anschauliche Formel bringen, entspräche das Bildresultat wohl dem Ausgangsmotiv minus der Realität mit ihren Parametern Zeit und Raum. Überhaupt scheint die Daseinsberechtigung des Realen hier alleine in seiner Rolle als Motiv der Fotografie zu liegen und seine Begrifflichkeit per se in diesem Zusammenhang ad absurdum geführt zu werden. Während sich das fotografische Abbild von seinem Ausgangsmotiv inhaltlich löst und sich hier also autonomisiert, gerät die Realität in ein gerade solches Abhängigkeitverhältnis – ein paradoxer Rollentausch.

Objektivität und Subjektivität, formaler Minimalismus und souveräner Ausdruck oszillieren hier in einem perpetualen Wahrnehmung- und Denkprozess, der sich dort verdichtet, wo sich die formal-kühle Bildfläche ins Reale und in die Tiefe öffnet – ein Fontana-Schnitt in eine Welt hinter der visuellen Oberfläche, während seine Unmittelbarkeit das Motiv gleichermaßen wieder an die Realität der Materie, des Ateliers und der künstlerischen Handschrift anbindet. Wo sich auf dem fotografischen Bildträger die Dingwelt gerade noch als geometrische Formensprache scharf zusammengezogen hatte, lösen emanzipierte Ungenauigkeiten und Farbnasen, Schnittkanten und Pinselspuren die provisorischen Schönheiten wieder aus der Zwangsjacke des Ideal-utopischen Perfektionismus. Raum und Zeit werden erfahrbar, um im nächsten Augenblick wie ein tiefer jedoch flüchtiger Gedanke wieder hinter der Abstraktion zu entschwinden.