Chargesheimer Stipendium

Jürgen Klauke, 2006

Zur Verleihung des Chargesheimer Stipendiums für Fotografie/Video der Stadt Köln. Tamara Lorenz ist eine Fotokünstlerin, die sich nach und nach auf geschickte Weise andere Medien einverleibt. Zwar mündet ihre Arbeit meist in Fotografien, aber man kann kaum mehr von Bildtafeln im Sinne klassischer Fotografie sprechen. Vielmehr öffnet, schließt oder verschachtelt sie Bildräume durch skulpturale Aufbauten vor der Kamera.

So wird beispielsweise eine Wand füllende Installation von vielen bunten, unterschiedlich großen Plastiktüten durch das fotografische Medium in abstrakte Bildlichkeit überführt. Klar komponierte Farbklumpen, einige prall gefüllt, andere schlaff herabhängend als würden sie langsam auslaufen, manche flächig und blass, manche knallig und plastisch. Eine Partitur des Lebens. Das Pendant zu diesem Bild schluckt den Raum fast gänzlich bzw. öffnet ihn ins Bodenlose. Schwarze mit Luft gefüllte Müllsäcke, deren reale Dimension kaum mehr abzuschätzen ist, lassen ihre Gestalt nur noch durch wenige und minimale scharf gezeichnete Lichtkonturen erahnen. Tamara Lorenz erzielt mit einfachsten Materialien und einem klaren, konzentrierten Bildaufbau eine große Wirkung zwischen Vertrautheit und Befremdlichkeit, Erwartungshaltung und Nonchalance, Nüchternheit und Witz, Naivität und Ironie. Sie arrangiert ihre temporären Konstruktionen im Atelier stets mit einer lebendigen Mischung aus Konzeption und Intuition. Es entstehen Bilder, die auf spielerische und zugleich fast wissenschaftliche Weise die Launen des Lebens vorführen. Schon in ihrer Arbeit „das halbe Leben ansich“ hat sie mit einer vorgetäuschten Beiläufigkeit Plastiktüten, Holzlatten, Stühle, einen Tisch, einen Ventilator, Kabel und andere stille Protagonisten des Alltags ins Licht gesetzt als würden sie ein heimliches Theater hinter verschlossener Tür aufführen – eine Tragikkomödie des Dingseins als Persiflage des Menschseins.

Lorenz’ Bildthemen gründen auf erfahrenen Gemütszuständen des sozialen Miteinanders und des menschlichen Alleinseins und erscheinen einem daher so vertraut. Beispielsweise lagern prall mit Luft gefüllte Plastiksäcke fein säuberlich geordnet im Regal. Die penible Ordnung und die Hohlheit der Lagerbestände lassen das zugrunde liegende Sicherheitsbedürfnis lächerlich erscheinen. Oder graue Tüten, die sich in zwei akkuraten Reihen wie Bild und Abbild, Original und Nachahmung gegenüber stehen – die Kopie der Kopie der Kopie. Die fahlen Tüten halten starr und stur ihre konforme Haltung.

In ihrer neuesten Werkgruppe “Pragmatische Prinzipien” baut Tamara Lorenz diverse alte und neue Holzlatten zu eigenwilligen Konstrukten zusammen. Sie lehnen ungenagelt und unverschraubt aneinander bis die Künstlerin sie nach gemachtem Foto spielerisch und unprätentiös in einen nächsten Typus transformiert. Unter den “Phänotypen” z.B. gibt es offene und geschlossene Gebilde, weiche und aggressive, komplexe und reduzierte Formen, sympathische und unsympathische Charaktere – Gemütsportraits, die einen unwillkürlich sogar an bestimmte Situationen und Menschen erinnern mögen. Durch den eindeutig gewählten Kamerastandpunkt entstehen häufig perspektivische Überlagerungen, räumliche Verschiebungen, Schattenspiele und andere optische Irritationen, die die fotografierten Skulpturen zu reduzierten Zeichnungen im Raum werden lassen. Wenn man Tamara Lorenz Arbeiten als kleine Abbildungen sieht könnte man meinen, die Fotografie sei lediglich Dokumentation der Installation. Lorenz erreicht dadurch eine weitere, eher beiläufige Bedeutungsirritation, die das Bild als solches auf simple, aber geschickte Art hinterfragt. Oft genug erscheinen nicht nur Massenprodukte sondern auch künstlerische Arbeiten auf Fotografien in Katalogen eindrucksvoller als die Realien, die sie abbilden. Die Entscheidung zur Fotografie als finales Werk trifft sie, um mit den Mitteln des Mediums zu spielen, seine optischen Eigenheiten auszukosten, wenn sich der Raum zur Fläche fügt. Der vorgegebene Blickwinkel verwehrt die Gesamtheit der Erfahrung und konzentriert den Betrachter auf eine Ahnung. Über die Distanz des Fotos zu dem gebauten Gebilde entsteht ein Moment der Erhabenheit und der Sehnsucht. Hier rascheln keine Tüten von der aufgewirbelten Luft beim Vorübergehen, hier fallen keine Lattenkonstrukte laut in sich zusammen. Die Materialien, bekannt aus Haus und Hof, ins Absurde inszeniert, verlieren über die Distanz der bildlichen Betrachtung ihre trostlose Banalität und entwickeln ein eigenständiges Bewusstsein, losgelöst von ihrer funktionalen Rolle. Sie werden gerade durch die Fotografie abstrakter und autonomer in ihrer Mise en Scène.

In Lorenz Videos erhalten die Materialien Einzelheiten ihrer Eigenschaften zurück: wie sie sich bewegen, welcher Ton entsteht, wenn Lorenz ihnen die Luft auspresst oder sie penetrierend schüttelt. Wie in ihren Fotos ist der Bildausschnitt wohl komponiert, der performative Akt steht jedoch diesmal im Vordergrund. Die Videokamera wird eher als dokumentarisches Medium eingesetzt – es gibt weder Schnitte noch Kamerabewegungen. In der Videoarbeit “Operator” werden bunte Mülltüten wieder zu Charakterskulpturen. Während die Künstlerin sie gesamte 19 Minuten der Reihe nach umarmt und quetscht wachsen ihnen Blasen, sie schwellen an, winden sich, werden dabei blasser oder reflektieren ein letztes Glanzlicht bevor sie plötzlich platzen oder endlich heiter pfeifend Luft lassen. So kommt keine um ihren Abgang: ob mit lautem Furz oder kläglich langem Fispeln. In der Arbeit “drag and drop” tritt Tamara Lorenz auch als Täter auf. Diesmal sieht man nur einen körperlosen Arm, der in mechanischer Anmutung eine weiße, zarte Lufttüte vor weißer Wand auf und ab bewegt. Ganz sanft beginnt die Tüte zu wippen, um sich zunehmend ihrem Schicksal durch bald unkontrolliertes, fast aggressives Schütteln zu ergeben. Diese Tüte zerplatzt nicht. Sie kommt leicht gebeutelt zur Ruhe bis die Erregung von neuem beginnen kann. Nach der Belastungsprobe ist vor der Belastungsprobe. Nach der Ekstase ist vor der Ekstase.

Tamara Lorenz beschäftigt sich auf ungeheuer leichtfüßige Weise mit ernsten Themen des Lebens ohne zu mahnen oder sich lustig zu machen und zynisch zu werden. Ihre Bilder sind Bestandsaufnahmen täglicher Beobachtungen in denen sie gekonnt und unbekümmert die richtige Mischung aus Drama und Komödie trifft, die das Leben ausmacht.